zu Thorsten Böckmann: Dnepr 2016
Auf dem Fluss
auf dem Fluss dahintreiben
zusehen
wie das Haar ergraut
die Haut verwelkt
weich
an die Kinder zurückdenken
ihre festen energischen Körper
ganz Ziel
ganz Wille
im Hier und Jetzt
auf dem Fluss dahintreiben
eine Hand im Wasser
nichts lauert mehr tief unten auf dem Grund
einmal winkt die Nixe
zur Erinnerung
was du immer wolltest
was du noch willst
steuere den Kahn ans Ufer
jetzt
oder nie
auf dem Fluss dahintreiben
dem großen Nichts entgegen
ohne Wille
ohne Ziel
endlich
die Haut wieder straff
vom Wasser des Flusses
das Haar verwoben
wiegt es sich mit dem Kahn
im langsamen Wasser
mal nach rechts
mal im Kreis
bis die Männer ihn ans Ufer ziehen
einzelne Planken
sind noch zu gebrauchen
12.2020/4.2021
Ihre goldenen Schuhe
Als meine Großmutter starb, hinterließ sie uns neben Hunderten von Büchern auch Schränke angefüllt mit Kleidungsstücken, die meine halbwüchsige Schwester und mich in Erstaunen versetzten.
Wir hatten unsere Großmutter nie in diesen afrikanischen Gewändern und Samtroben gesehen. Dazu diese spitzen Büstenhaltern und seidenen Unterröcke.
Das passte so gar nicht zu der gebückten Frau mit dem maßgefertigten linken Schuh, der eine dickere Sohle hatte, weil ihr linkes Bein seit dem schweren Unfall etwas kürzer war.
Und dann diese goldene Sandalette mit den hohen Absätzen. Die sollte meine Großmutter getragen haben?
Fasziniert stolzierten wir vor dem großen Spiegel auf und ab.
Jetzt bin ich selbst Großmutter und frage mich, ob es sie geschmerzt hat, diese Dinge anzusehen.
Ihnen beim Aufräumen unvermittelt zu begegnen. Zu begreifen, dass es vorbei ist.
Kein Tanz mehr bis in die Nacht, keine bewundernden Blicke auf der Straße.
Gab es diese Stimme in ihr, morgens beim Blick in den Spiegel, diese Wut: Das bin ich nicht, diese kranke Alte!
Ich will alles, immer noch alles. Mein Gestern im Heute. Meinen jungen Körper und meine 60 Jahre Leben, meine Enkelkinder und neue Abenteuer.
Als meine Großmutter starb hinterließ sie mir Zimmer und Schränke voller Liebe.
Zu uns, zum Leben, zur Kunst.
Dafür danke ich ihr.
3.2021
Familien-Erbstück
Ein blindes Fenster in einem Museum.
Wie eine überdimensionale Brosche sieht es aus, dieses Fenster der alten Synagoge, durch das man nichts sehen kann.
Die blinden Scheiben verdecken das Grauen, das kein Mensch glauben kann.
So bleiben sie ungesühnt.
Diese Taten von Tieren, die vor Gericht ihre Rechte als Menschen einfordern.
Ich sehne mich nach einem Gott, der alles sieht und dessen Barmherzigkeit nicht zu groß ist.
1.2021/2.2020
Flussabwärts
Sie folgte ihm wie eine Robbe dem Polarstern.
Weiß und strahlend in ihren Träumen.
Als ihre Füße wund gelaufen waren, fand sie ein Boot und ließ sich treiben.
Den Fluss hinunter.
Sie wusste nicht mehr, wohin sie eigentlich unterwegs war, folgte ihm.
Hungrig.
An jeder Biegung hielt sie Ausschau, meinte ihn zu sehen.
An der Mündung wurde sie von der Weite des Ozeans überrascht und wollte umkehren.
Längst hatte ihre Haut unter der Sonne Blasen geworfen und sich geschält.
Eine Schicht nach der anderen, bis ihr Inneres offen da lag.
Sie wollte umkehren und wie die Lachse gegen den Strom schwimmen.
Nur noch zurück nach Hause.
Die Lachse schwimmen jedes Jahr viele Meilen flussaufwärts.
Dorthin zurück, woher sie gekommen sind.
Sie blickte auf das Meer und begriff, dass es für sie kein Zurück mehr gab.
6.2020/8.2015
Schöne Kiesel am Wassersaum
Ehe ihre Spuren verwehn, wäscht das Meer sie rund
Alles Schmutzige vergeht in der Erinnerung
So werde ich auch an dich später gerne zurückdenken
6.2020/2016
Happiness Is a Warm Gun
Ich berühre dich
Der Bolzen schlägt auf das Zündhütchen
Du gehst in Flammen auf
Die Kugel fliegt
Endlich frei
Schmiegst dich in meine Hände
Sie halten dich
Fest und sicher
happiness is a warm gun
4.2020/11.2017
Gift
Die junge Frau steht vor der Vitrine und betrachtet den Löffel.
Ein emaillierter Löffel hinter Glas, weiß mit roter Schrift.
„Gift“ steht darauf.
Sie muss an Thomas denken.
Weiß und rot.
Jetzt fehlt nur noch das „schwarz wie Ebenholz“. Aber ist es nicht schon da? Das Böse, mit dem Schneewittchen getötet wird, für eine gewisse Zeit jedenfalls.
So lähmt sie sein Schweigen. Nachrichten, die nicht mehr auf ihre Fragen antworten, sie handeln nur noch von ihm.
Der fremde Geruch in seinen Kleidern.
Schwarz und dunkel breitet sich Fäulnis im Apfel aus. Solange man ihn nicht berührt, bewundert man seine rote Schale, aber fasst man ihn an, gibt alles nach, nichts Weißes ist übrig geblieben.
So gerne möchte sie schlafen, bis alles vorbei ist.
Sie kann nicht ewig hier im Museum stehen und auf die Vitrine starren.
Dort hinter Glas liegt ja nur ein Löffel, weiß mit roter Schrift.
„Gift“ steht darauf.
2.2020
Dein Kuss
Eine Raupe sein
umschlossen
vom Fleisch eines Pfirsichs
faulig und süß
In deinen Lippen
versinken
warme, mehlige Frucht
die mich verschlingt
Ich vergehe auf deiner Zunge
eine Erdbeere
die letzte des Sommers
2.2020/2002
2.2020
Sie ist so müde. Die letzten Strümpfe wird sie morgen stopfen und mit den teuren Kerzen muss sie auch haushalten.
Sie blickt hinüber zu ihrem Mann.
Ernst schläft endlich wieder. Er muss jetzt nachts oft austreten. Eigentlich sollte der Tee besser helfen.
Ob er oben auf dem Bau auch genug davon trinkt? Er schmeckt ihm scheußlich und der Zucker ist mal wieder knapp.
Der Doktor sagt, dass Männer im Alter oft darunter leiden.
Wenn es nur das ist.
Jetzt im Herbst vergeht kaum eine Woche, ohne dass Ernst mit nassen Füßen nach Hause kommt, und die Luft hier oben an der Grotenburg ist scharf.
Wenn er nur keine Schwindsucht bekommt.
Die guten Leute aus der Stadt haben tatsächlich einen Wagen für ihn, ihren „Alten vom Berge“, geschickt: Jetzt haben wir warme Teppiche, einen Kanonenofen und sogar einen Ohrensessel für Ernst.
Das tut gut, wie sie an ihn glauben.
War das eine Aufregung, als ich im Frühjahr den Brief erhielt, dass es mit dem Vater in dem alten Blockhaus so nicht weiterginge.
Von Anfang an wollte ich ihn ja nicht so alleine da droben hausen lassen. Karlinchen ist ja ein tüchtiges Mädchen, aber eine Enkeltochter ist eben doch nicht das Gleiche wie eine Frau, die ihren Mann durch und durch kennt.
Sie sieht ihn im Schein der Kerze an und lächelt.
Endlich kannst du wieder schlafen, mein Ernst, und stehst jeden Morgen guter Dinge auf und legst dich abends zufrieden nieder.
Diese schlimmen Jahre – von Pontius zu Pilatus bist du gelaufen. Schöne Worte über die deutsche Einheit hast du von vielen gehört, aber harte Taler? Gut, dass der Kaiser schließlich ein Einsehen hatte.
Endlich bekommst du den verdienten Lohn.
Die Kinder sehen nur die enge Hütte und den beschwerlichen Weg hier herauf. Böse sind sie auf mich, dass ich es dir nicht ausrede.
Mama, auf dich würde er hören! - Würdest du das?
Und dann? Jetzt, wo du endlich dein Werk vollenden kannst? Sie sehen dich nicht, wie du pfeifend von der Arbeit kommst, dich vor dem Haus auf die Bank setzt und wie ein König deine Blicke schweifen lässt.
Du, der Alte vom Berge – kein Herrscher könnte einen prachtvolleren Palast sein Eigen nennen. Über dir nur der Himmel und die sonnendurchfluteten Kronen der Buchen, die unsere Hütte umgeben.
Sie zieht ihren Schal etwas enger um sich und betrachtet ihren schlafenden Mann.
Wie jung er aussieht.
Sie löscht das Licht und schiebt ihre kalten Füße behutsam unter seine Decke, um ihn nicht aufzuwecken.
11.2019/10.2010
Noch einmal alles geben
Noch einmal
11.2019
Brot und Rosen
Du dehnst deine Glieder
und Kohlen glimmen zwischen uns
brennen Rosen in meine Haut
Unsere Leiber ein Ofen
backen Brot für ein Leben
11.2019/12.2005
Zu Birgit Voß: Gespinste
Sie sieht seinen Blick im Spiegel, wie er auf ihre
entblößten Schultern starrt. Nervös an seinem
Hemd nestelt.
Hat er denn nicht begriffen, was diese Stunde
mit ihr bedeutet? Dass sie nur die logische
Konsequenz der unzähligen Briefe ist, die
monatelang zwischen ihnen hin und her gewandert
sind?
Er kennt sie besser als jeder andere Mann, mit
dem sie im Bett gewesen ist.
Sie zögert.
Wenn er das nicht versteht, warum sind sie dann
hier?
Und schiebt langsam den Träger ihres Unterrocks
wieder an seinen Platz.
9.2019/11.2017
Eiszeit
Sie ging in den Keller, um sich eine Pizza fürs Abendessen zu holen.
Die Kühltruhe surrte und zeigte an, dass sie abgetaut werden musste. Barbara verzog den Mund. Zeit zum Abtauen. Die hatte sie jetzt in den langen Sommerferien zur Genüge.
Dabei hatte sie in den Ferien immer das Gefühl, ihm wäre es am liebsten, er könnte sie schockgefrostet in einer Riesentruhe zwischenlagern, bis er genügend Urlaub von allem genommen hatte, von der Arbeit, dem Stress zuhause und von ihr, seiner anspruchsvollen Freundin.
Sobald der Alltag wieder begann, kam er gerne zu ihr zurück, die ihm so manche Pause versüßt hatte. Pausen, die er sonst doch nur mit fruchtlosem Grübeln vertan hätte.
Barbara warf einen Blick auf die blinkende Schneeflocke neben der Schockfrost-Taste.
Schock gefrostet. Was konnte besser ihren Zustand beschreiben. Diesen tauben Schmerz, der sich ausbreitete und vergeblich nach einem Ventil suchte, wenn er nichts von sich hören ließ. Sie hatte dann das Gefühl, pausenlos stumme Schreie auszustoßen.
Niemand hatte es ihr bisher angemerkt.
Sie ging in die Küche zurück und schob die Pizza in den Ofen. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Scheibe.
Nichts verriet, dass der größte Teil nie wieder auftauen würde. Seelischer Permafrost. So konnte sie die Zeit ohne ihn überleben. Unerträgliche Einsamkeit.
Ihre Haut, so rosig und frisch, wie er es liebte, war taub und gefühllos. Die Schminke deckte alles ab und das war gut so. Niemand sah, was mit ihr geschehen war.
Trotzdem wunderte sie sich manchmal, dass es ihren Kollegen nicht auffiel, dass eine Frau in ihrem Alter eigentlich Fältchen hätte haben müssen. Diese kleinen Zeugen von Liebe und Schmerz in den Augenwinkeln und um den Mund herum.
Die Pizza war fast fertig, üppig und farbenfroh. Der Käse glänzte und begann an einigen Stellen schön braun zu werden.
Jetzt die Backofentür öffnen und die Hand mitten auf die Pizza legen und endlich wieder die Hitze des Lebens spüren.
Oder noch besser den Kopf hineinschieben. Spüren, wie ihre Haut auftauen würde, sich erst zusammenziehen und dann schälen, bis ihr Inneres schwarz und tot nach Außen treten würde.
Sie würde schreien können und mit den Füßen zappeln, als ob sie weglaufen wollte, so wie in diesem einen Hitchcock-Film.
Und dann würde endlich alles vorbei sein. Feuer und Eis. Liebe und Schmerz.
Sie nahm die Pizza aus dem Ofen und schnitt sie in acht handliche Stücke.
Heute Abend kam Casablanca. Diesen Film konnte sie immer wieder sehen. Schmerz und Liebe und die süße Wehmut des Verzichts.
Barbara goss sich ein Glas Bordeaux ein und stellte die Flasche gleich daneben.
Der Abend war noch lang.
8.2019/1.2018
Und er hört ihn doch.
8.2019
Porentief rein mit Ariel
Sie schiebt den Einkaufswagen an den Regalen vorbei und prüft ihren Zettel. Milch, Tomaten, Finn-Crisp. Jetzt fehlen nur noch der Käse und das Waschmittel.
Frosch Flüssigwaschmittel. Ideal für Buntes und empfindliche Weißwäsche. Das bewährte Persil für Reinheit und Pflege. Febreze. Befreit Textilien von Gerüchen. Dezent extra. Subtil extra. Frische Valentins-Blumen zu gewinnen. Im Wert von 49 D-Mark.
Wenn sie gewusst hätte, dass sie ihn so vermissen würde, dann hätte sie die Pyjama-Jacke in ein großes Einmachglas gesteckt und den Deckel fest zugedreht.
Valentins-Blumen im Wert von 49 D-Mark.
Sie hatte es nicht gewusst. Nicht geahnt, dass sie sich niemals von ihm trennen würde.
Febreze. Befreit Textilien von Gerüchen.
Wie es sie einmal schmerzen würde, dass nichts mehr in ihrer Wohnung nach ihm roch. Sie hatte die Laken, ihren Pyjama gewaschen wie immer.
Dezent extra. Subtil extra.
Jetzt tat es weh, wenn ein Mann mit seinem Rasierwasser an ihr vorbeiging, wenn sie seine alten Briefe las und sie einfach nur nach Papier rochen. Nach Papier.
Sie sucht den Weg zur Kasse.
Den Pyjama hat sie später in die Kleidersammlung getan. Er war nur noch ein Stück Stoff. Porentief reingewaschen. Ein Leichentuch.
Porentief rein mit Ariel. Ariel futur.
7.2019/2.2001
Mit freundlicher Genehmigung © Rolf Escher
www.rolf-escher.de
Zu Rolf Escher: Verhüllte Kommode. 1990, Ätzradierung
Vor dem Spiegel
Sie stand auf, schob den Stuhl beiseite und sah nicht in den Spiegel. Ein letzter Blick auf die Uhr. „Bye bye“, hatten John Lennon und Paul McCartney im Hintergrund zu der Harfe gesungen. Leicht dahin gesagt. Ihre schönen schwarzen Haare. Bye bye.
Er kam um sieben nach Hause wie jeden Tag. „Ich bin da!“
Diesmal blieb das Haus still. Etwas stimmte nicht. Kein Radio, keine hohen Absätze auf den Terracotta-Fliesen. Vielleicht war sie noch beim Arzt. Sie hatte nicht gut ausgesehen die letzten Tage.
Doch heute Morgen war es anders gewesen. Ihre langen weißen Arme, die sich nach ihm ausgestreckt hatten, ihn nicht aufstehen lassen wollten.
Und dann hatte sie plötzlich auf den Wecker gezeigt und ihn zur Arbeit geschickt und eine Melodie gesummt, die ihm bekannt vorkam. Etwas Altes von den Beatles.
Im Esszimmer auf seinem Platz kein Zettel. Die Küche tiptop aufgeräumt. Ihr Arbeitszimmer, er atmete erleichtert aus, war chaotisch und vollgestopft wie immer.
Aber irgendetwas stimmte nicht. Im Schlafzimmer, er blieb in der Tür stehen und starrte auf ihre Kommode. Ihre Haare, ihre schönen langen Haare. Die große Geflügelschere. Was hatte sie damit gemacht? Ihre schönen Haare.
Gott sei dank, ihre Lieblingssandalen waren noch da. Etwas verloren standen sie vor der Kommode. Nackt, aber zu zweit.
Sie würde nach Hause kommen.
Am nächsten Abend hatte er die ganze Wohnung nach einem Brief, einem Hinweis abgesucht und die Polizei informiert.
„Ihre Frau ist erwachsen und Anzeichen für ein Gewaltverbrechen liegen nicht vor. Da können wir nichts machen. Ist sowas schon öfter vorgekommen oder war ihre Frau in letzter Zeit anders als sonst?“ Die Beamten wollten ihm nicht helfen, sahen ihn noch nicht einmal an. „Warten Sie erst mal 48 Stunden. Bis dahin tauchen die meisten wieder auf.“
Ja, verdammt, das wusste er selbst.
Als die Putzfrau kam, schloss er die Tür zum Schlafzimmer ab. Er konnte den Gedanken daran nicht ertragen, wie sie die Sandaletten ordentlich in den Schuhschrank räumen und auf der Kommode erst einmal richtig saubermachen würde.
Am Ende der zweiten Woche fiel ihm auf, dass in ihrem CD-Player eine CD von den Beatles steckte. She‘s leaving home. Bye bye.
Danach wartete er nicht mehr und begann, ihre Sachen in Umzugskisten zu packen. Der Dachboden war groß genug.
Er träumte noch lange davon, dass sie in einem Kloster lebt. Den Kopf unter der Haube geschoren, mit praktischen Halbschuhen. Ein progressiver Orden ohne Zwänge wäre für sie nicht Frage gekommen. Bye bye.
Und woanders hin hätte sie auf jeden Fall ihre Fotoalben und ihre Kamera mitgenommen. Das hatte er sofort überprüft.
Als er noch befürchtete, sie hätte einen anderen Mann kennen gelernt.
4.2019
Auf der Straße
Er fährt nach Osten. Diese Allee kennt er wie seine Westentasche.
Auf dem großen Ahorn mit dem abgebrochenen Ast hatten sie damals ihr Baumhaus errichtet.
Und später war er mit Hilde durch viele Nächte an der linken Seite entlang gewandert.
Links gehen, der Gefahr ins Auge sehen.
Erst nur Hand in Hand, dann eng umschlungen. Zum Glück war hier nie viel Verkehr.
Er wendet, von Westen leuchtet die Sonne tief und blendet ihn. Hilde neben ihm im Beifahrersitz brabbelt vor sich hin.
Weißt du noch, Hilde?, flüstert er heiser.
Sie dreht den Kopf und lächelt, ohne ihn zu erkennen.
Die Straße ist jetzt frei. Er beschleunigt. 70, 100, 150. Gegen den großen Ahorn am rechten Straßenrand ist es am sichersten.
Bis dass der Tod euch scheidet.
Die Bäume verschwimmen vor seinen Augen. Die Sonne streift behutsam den Horizont.
Was ist die Welt doch schön, Hilde!, flüstert er, drosselt das Tempo und bricht in Tränen aus.
3.2019/4.2015
Zu Marie-Luise Meister: Ohne Titel
Für R.
Beschützt
Sie stehen
unter den ausladenden Ästen der Föhre
Er küsst sie
und sie vergräbt ihre Nase an seinem Hals
wo sein Puls über dem Schlüsselbein klopft
Dort
wo sein Duft sie hungrig macht
Sie halten sich fest
Wollen keinen Schritt mehr gehen
der sie trennen muss
Stehen unter dem Baum
und die Welt muss draußen bleiben
2.2019/2013
Auf dem Friedhof
Er schweigt.
Sie redet über das Wetter und darüber, was sie eigentlich zuhause im Garten erledigen müsste.
Gerne würde sie seine Hand nehmen und ihm eine gute Erbsensuppe kochen.
Er denkt an seine leere Wohnung und daran, ob sie ihr gefallen würde und wie die Nachbarn sich das Maul zerreißen würden.
Schließlich verstummt sie und nimmt ihre Handtasche.
Sie wird morgen wiederkommen.
Er auch.
2.2019/10.2009
Zu Quint Buchholz: Erzählung im Regen
Für A. und K. Linnemann
Schicksal
Das war seine Masche.
Wenn es ernst wurde, verschwand er in einem Buch.
Da er sich für Taschenbücher nicht zu schade war, hatte er auch immer eins bei der Hand, wenn es nötig war. In der Manteltasche, neben den Broten in der Vesperdose und da, wo andere Leute ihren Reisefön aufbewahrten.
So konnte ihm nichts passieren.
Auch diesmal wollte er sich schleunigst davon machen. Wer hatte schon Lust, als Zeuge stundenlang bei der Polizei herumzusitzen, weil man das Pech gehabt hatte, im Regen über die Beine eines getöteten Mannes im Anzug zu stolpern.
Da hielt er sich lieber an Mr. Darcy von Jane Austen. Der hatte immer alles im Griff, nur seine Gefühle nicht. Der wüsste, was zu tun war, und fand Mr. Wickham im Handumdrehen, als es galt, die Familienehre von Elizabeth Bennet wieder herzustellen.
Er zog das Buch hervor und blätterte.
Doch da, diese Seite ließ sich einfach nicht aufschlagen. Eine kleine Hand hielt das dünne Papier von innen zusammen. Das würde hässliche Knitterspuren geben. Das mochte er gar nicht.
Die Finger waren zart und blass mit einem schmalen Silberring. Altmodisch mit einer eingefassten Perle.
Das gefiel ihm. Das waren junge Finger, die Haut weich und faltenlos. Aber dass er seine Lieblingsstelle nicht lesen konnte, das ging nicht.
Er bog die Finger behutsam auseinander und blätterte um.
Da stand sie und schlug verlegen die Augen nieder. In einem hellgrauen Tweedrock und taubenblauen Twinset; die blauen Flecken an ihren Unterarmen passten farblich gut dazu. In der anderen Hand hielt sie einen Brieföffner und stammelte: „Es war ein Unfall. Ich wollte nur die Seiten aufschneiden, das Buch war ja noch ganz frisch. Fred meinte, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt zum Lesen. Aber ich war gerade da, wo Lizzy Mr. Darcys Schwester Georgiana beim Cembalospielen die Noten umblättert und die schrecklichen Schwestern von Mr. Bingley sich gerade über sie lustig machen und niemand davon wissen soll und Lizzy und Darcy sich tief in die Augen sehen und wo man weiß, dass alles gut wird und sie sich doch lieben. Und Fred wollte mir den Brieföffner mit Gewalt wegnehmen. Ich sollte zuerst die Küche aufräumen und das Wohnzimmer und da habe ich einfach zugestochen.“
Er sah sie fassungslos an und begann zu lächeln. „Du bist es, endlich habe ich dich gefunden.“
Er öffnete die nächsten Seiten für sie, legte den Brieföffner weg und küsste ihre Hand.
„Lass uns gehen“, sagte er heiser und schon waren sie in den weitläufigen Fluren Pemberlys verschwunden.
Das war seine Masche gewesen.
Diesmal war es sein Schicksal.
1.2019
Weihnachten
Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und betrachtet das Kind. Das war anstrengend gewesen. Ohne eine Frau, die sich auskennt. In einem Stall. Wie habe ich dieses Kind gehasst. Deinen Bauch, der sich rundete. Dein unschuldiges Gesicht. So rein und zart und dann schwanger. Von mir nicht. Du warst zwar mit mir verlobt, aber ich habe dich nie angerührt. Es sollte alles seine Ordnung haben. Und dann die Erkenntnis, du bekommst ein Kind. Von wem? Es muss passiert sein, als du bei deinen Verwandten in Juda warst. Auf meine Fragen hast du nicht geantwortet. Einmal habe ich dich geschlagen, aber du hast mich nur mit großen Augen angesehen. Ohne jedes Bewusstsein von Schuld. Das kränkte mich am meisten. Damals hätte ich dich zu deinen Eltern zurückschicken können. Niemand kann von mir erwarten, dass ich einen Bastard großziehe, über den sich die Nachbarn lustig machen. Ja, ich war sogar fest dazu entschlossen. Aber diese Träume: Steine, die deine Knochen zerschmettern. Um dich herum schwarzgekleidete Gestalten, die Gott als Zeugen anrufen. Dein Blut überall. Und dann sah ich die Gesichter aus der Nähe und jedes Mal war es mein eigenes hassverzerrtes Gesicht und ich erwachte schweißgebadet mit zitterndem Herzen. Ich habe dich nicht verlassen und nichts gesagt. Nur gut, dass wir uns auf die Reise machen mussten, bevor dein Zustand nicht mehr zu übersehen war. Was hätte ich auf die Fragen antworten sollen.
Das Kind schmatzt und dreht sein Köpfchen zur Seite. Soll ich es nicht doch in die Krippe legen? Warm genug ist es zwischen den Tieren. Aber was wirst du dazu sagen. Bisher hast du dich in alles gefügt und nicht geklagt, auch als ich dir kein bequemeres Lager in einer Herberge verschaffen konnte. Vielleicht hast du dich doch schuldig gefühlt und deshalb keine Ansprüche gestellt. Jetzt verstehe ich dich. Nur das Kind ist wichtig und du wirst es mir nicht freiwillig geben. Dort auf deinem Bauch zwischen deinen Brüsten ist sein Platz, wo deine Hände es zärtlich umfangen und dein Herzschlag seinen Schlaf begleitet. Wie schön du bist. Ganz erfüllt vom Zauber dieses neugeborenen Kindes, dem Geruch seines Haarflaums, den kleinen Händchen.
Josef geht hinüber, nimmt seinen Mantel aus Ziegenfell und breitet ihn über die beiden. Maria hebt den Blick und lächelt ihn an. Leise scharrt er etwas Stroh zusammen und legt sich neben sie. Die Tiere werden für mich Wache halten.
Er schließt die Augen, atmet den Geruch von Milch auf Marias Haut und lauscht den ruhigen Atemzügen. Ich werde ihn Jesus nennen.
12.2018/11.2004
Draußen stürmt es,
überzieht ihre Welt
mit eiskaltem Guss.
Bitter und grau.
Er hat sie verlassen.
12.2018/11.2011
Endlich satt
In dieser Nacht träumte sie.
Er schob eine Schubkarre um ihr Bett herum. Es stapelten sich Pralinenkartons, Trüffeltütchen, saure Geleedrops und natürlich Nougatringe.
Und es würde ihr nicht gelingen, von allem zu probieren. Ihr Magen war unnatürlich klein in ihren Träumen.
Sie griff in die Schokoladenbonbons und ließ sie die Kehle hinuntergleiten. Jetzt die Kokosberge – er wusste, wie sie es liebte, wenn er sie auf seinem ausgestreckten Arm direkt in ihren Mund rutschen ließ. Die Haselnusstoffees krachten so schön zwischen den Zähnen.
Plötzlich war die Schubkarre leer. Er stellte sie ab und ging wortlos davon.
Sie schlug die Decke zurück, wollte ihm nach, aber ihre Beine versanken in Nuss-Nougat-Creme. Ihre Finger griffen in saure Gummischlangen mit Apfelgeschmack.
Sie öffnete ihren Mund, wollte ihn rufen. Zuckerwatte quoll heraus. Sie schloss die Augen und ließ sich fallen. Süß und weich und weiß und rosa, turmhoch und klebrig.
Diesmal hatte sie es geschafft.
Sie schlug die Augen auf. Seine Seite war wie so oft glatt und unbenutzt, doch es würde ein schöner Tag werden. Sie ging zu ihrem Schreibtisch und fischte die Visitenkarte der Anwältin aus dem Stapel.
Sie würde die Scheidung einreichen. Kompromisse hatte sie genug gemacht. Sie würde es auch ohne ihn schaffen. Endlich.
12.2018/8.2016
Weiß und süß
Sie fährt mit der Zunge vorsichtig über ihre Oberlippe, löst einzelne klebrige Fäden und zerkaut sie knisternd. Weich und flauschig sieht sie aus, die Zuckerwatte.
Früher hatte sie immer die rosafarbene genommen. Rosa – die Farbe der kleinen Mädchen.
Weich und süß sehen sie aus, doch wenn sie bockig sind, kann man sich die Zähne an ihnen ausbeißen.
Heinz hatte sie deswegen als spröde bezeichnet. Mit ihm war sie oft auf dem Rummelplatz gewesen. Von beiden Seiten hatten sie sich durch die Zuckerwatte hindurch gegessen, bis sich ihre Lippen fast berührten und sie den Kopf im letzten Moment wegdrehte.
Ob es ihm gut geht? Seine Frau ist im letzten Winter gestorben.
Sie betrachtet die Zuckerwatte.
Damals hatte sie schwarze Locken, so dicht und seidig wie ihr alter Nerzmantel. Jetzt sind es nur noch diese weißen Flusen, durch die man die Kopfhaut rosig schimmern sieht wie bei nackten Mäusen.
Ob sie sich erkennen würden, wenn sie sich begegneten?
Sie zupft nachdenklich mit ihren Lippen kleine Büschel aus der Watte und lässt sie zwischen den Zähnen zergehen.
11.2018/7.2011
Männersache*
Er hatte immer gedacht, das sei Müttersache.
Frauen, die ihre Kinder nicht gehen lassen konnten.
Sie um sich haben mussten, um sich zu erden: ein Kind an der Brust, dann auf dem Schoß, an der Hand, am Frühstückstisch, mit der Schultüte, beim Abschlussball.
Immer fokussiert. Immer sicher und unersetzlich. Bis zu diesem Tag, wo sie auszogen, fortgingen und nur noch zu Besuch kamen und einen zittrig zurückließen, eine Kompassnadel ohne Pol.
Er wurde weniger. Beim ersten Mal glaubte er, es sei der schlimmste Tag seines Lebens, als er seine Große winkend in ihrer neuen Wohnung zurückließ. Lange lief er blind durch die Tage, bis er
sich umsah und auf seine anderen Kinder besann.
Die großen Löcher in seinem Inneren bemerkte nur er. Vampire spiegeln sich nicht. Er sah seine Brust nicht mehr. Hemd und Jackett verdeckten das Loch nur notdürftig.
Beim letzten Mal, als es sein Sohn war, der ging, wusste er bereits, dass auch dies nur eine Vorbereitung war.
Er sah es in den Augen seiner Frau. Sie würde die Nächste, die Letzte und die Erste sein, die in sein Leben getreten, ihm eine Familie und einen Sinn geschenkt hatte und auch wieder nehmen würde.
Mit vollem Recht. Er hatte den Kindern gezeigt, dass man seinen Eltern nichts schuldete. Besuche und Familienfeste waren Verpflichtungen, die er als Konventionen vor langer Zeit wie eine falsche
Haut abgestreift hatte. Alt und überholt.
Ihm blieben der Anzug und der Koffer. Ein gepflegter Obdachloser mit Adresse und Schlüssel. Ein tönendes Erz, eine klingende Schelle. Leer.
Er taumelte und tiefe Töne drangen aus seinem ausgehöhlten Körper.
Er hatte immer gedacht, so etwas sei Frauensache.
Mütter, die ihre Kinder nicht in die Welt ziehen lassen wollten.
Er nahm seinen Koffer und ging.
* Entstanden zu Bruno Katalano: De voyageur dechíré
11.2018/10.2017
Silbury Hill - Gedanken einer verheirateten Frau
Der Hügel wurde aufgeschüttet in langen qualvollen Tagen und Jahren.
Wenn man ihn aufschnitte, fände man dort Knochen? Altertümliche Werkzeuge oder Kultgegenstände?
Wenn sie mein Herz aufschneiden, finden sie dort keine Spuren von dir.
Die leuchtenden Stunden voller Zärtlichkeit.
Sie werden nichts davon finden, sich fragen und wundern. So viele Jahre, die blauen Flecken, die gebrochene Rippe.
Sie werden nichts sehen als den Hügel,
eine umgedrehte Schale inmitten der Weizenfelder.
11.2018/9.2003
Charlotte*
Sie übergab sich heftig und ließ sich erschöpft in die weißen Leinenkissen zurücksinken ...
...Ist das der Preis für meine Inkonsequenz... Mein Gott, vergib mir diese sündigen Gedanken, ich weiß, das Sakrament der Ehe ist heilig... Und es tut ja auch gut, auf den langen Reisen in den kalten Postkutschen, in denen man grün und blau gestoßen wird, nicht allein zu sein... Einen Gefährten zu haben, der mit dem Gepäck hilft und mich warm einpackt, so wie Arthur das immer tut... Der gute Arthur... Seine Hand ist sonst so angenehm kühl, jetzt fühlt sie sich auf meiner Stirn klebrig an... Oder liegt das daran, dass meine Haare schweißnass sind... Diese furchtbare Übelkeit... Wird das denn niemals aufhören... Ob es nicht doch dem Kind schadet... Helen sagt zwar, dass Übelkeit in den ersten Monaten ganz normal ist, aber ich glaube ihr nicht mehr... Seitdem ich nur noch erbreche, kaum den Tee bei mir behalte, hat auch sie Angst... Manchmal kann ich sie mit Arthur flüstern hören, wenn sie denken, dass ich schlafe... Arthur, was würde ich nur ohne ihn machen... Ohne ihn wäre ich gar nicht in dieser Situation... Herr, vergib mir, gib mir Kraft... Lass mich leben... Um des Kindes willen... Der Tee schmeckt scheußlich... Ich weiß, ich muss etwas trinken, aber löffelweise schmeckt er noch schlechter, ach, könnte ich ihn doch in einem Zuge austrinken... Ich weiß, ich bin undankbar, nur wenige Frauen haben einen Gatten, der am Krankenbett seiner Frau sitzt und ihr geduldig lauwarmen Tee einflößt... Auch wenn er ein wenig salbungsvoll ist, der Arme... Ich weiß, ich sollte das nicht sagen, aber, dass die Wege des Herrn unerforschlich sind und dass es mir bald besser gehen wird, wenn es der Wille des Herrn ist, das habe ich jetzt schon so oft gehört... Natürlich hat er Recht, aber... Vater wäre niemals so langweilig gewesen... Ich wünschte, ich könnte ihn hören, die Odyssee, die griechischen Philosophen... Ich bin ungerecht, Arthur kann nichts dafür, dass seine Eltern kein Geld hatten, einen anständigen Hauslehrer für ihn einzustellen... Aber dieses: Wenn es sein Wille ist – ich kann es nicht mehr hören, was ist denn, wenn es gerade nicht sein Wille ist, wenn Gott mich dafür strafen will, dass ich meine Berufung verraten habe? Seit der Hochzeit habe ich nichts Nennenswertes mehr zu Papier gebracht... Arthur, hast du niemals Zweifel, Schuldgefühle... Was du mir angetan hast? – Wie kannst du so gelassen sein... Ist es deine Physiognomie... Dein schwerfälliger Körper mit dem Kopf eines Löwen, mit deinem lockigen, dunklen Haar und dem gepflegten Backenbart... Was sagst du - es ist Zeit, Mrs. Simmons zu besuchen... Ja, ich weiß, dass sie seit ihrem Sturz letzte Woche den Gottesdienst nicht mehr besuchen konnte... Und du wirst in zwei Stunden zurück sein... Geh nur, Helen ist ja unten, ich kann ihr läuten, wenn ich etwas brauche... Gleich wird er am Gartentor erscheinen... Was wäre mein Leben jetzt ohne den Blick aus dem Fenster, die Heide, das Hochmoor, wie lange ist es her, dass ich dort war... Der Himmel ist so klar und blau, sicher ist es sehr kalt... Der Wind treibt Arthur die Rockschöße auseinander... Die meisten Fremden hassen es, aber ich liebe das Moor mit seinen Tieren und Pflanzen, das Jubeln der Lerchen, so klein und hässlich mit einer göttlichen Stimme... Meine Seele ist seit Monaten stumm... Nur übelriechende Säfte quellen Tag für Tag aus meinem Körper, ergießen sich aus meinem Mund und besudeln alles in meiner Umgebung... Ich weiß, dass Arthur mich aus tiefem Herzen liebt, aber was genau liebt er? – Meine magere, kleine Gestalt, das blasse, unregelmäßige Gesicht... Wohl kaum. Sein hartnäckiges Werben trotz meiner körperlichen Unzulänglichkeit hat mich wohl davon überzeugt, dass er meine Seele begehrt... So wie Rochester Janes Seele begehrt... Mit ihr über Gott und die Welt disputiert… Wie er aufmerksam ihre Skizzen studiert und sie als seinesgleichen ansieht. Mein Gott, Arthur, wie viele Heiratsanträge von dir habe ich abgelehnt und du hast dich immer nur kurz entmutigen lassen... Beim ersten Mal wurde dein Gesicht ganz grau - ich habe noch nie einen Mann so schluchzen gesehen wie dich damals draußen vor dem Haus, als du dachtest, ich sähe dich nicht... Ich liebe dich nicht so, wie Jane Rochester liebt, das weißt du… Ist das deine Art von Rache... Mich am Schreiben zu hindern... Meine Hilfe bei deinen Pfarrgeschäften so rücksichtslos einzufordern wie ein Kind die Fürsorge der Mutter? Weil du spürst, dass es Mitleid war, was mich schließlich umgestimmt hat... Oh ja, ich kenne die Qualen unerwiderter Liebe... Brüssel... Monsieur Heger... Die arme Lucy Snow... Der Roman war kein so großer Erfolg wie „Jane Eyre“... Wahrscheinlich bin ich zu nah an der Realität geblieben, das tut dem Schreiben nicht immer gut... „Jane Eyre“ habe ich damals so enden lassen, dass Jane sich nur noch um den verstümmelten Rochester kümmert, in völliger Hingabe glücklich mit ihm ist... So habe ich mir das weiß Gott nicht vorgestellt... Herr, schon wieder habe ich deinen Namen gedankenlos benutzt... Arthur... Er muss der Engel sein, den du mir gesandt hast, mich zu befreien von meiner Selbstsucht und Eitelkeit... Lass mich leben, Herr, ihm eine gute Gefährtin sein... Für unser Kind...
... Sie drückte ihr Gesicht in die Kissen und begann zu schluchzen und alles auszuspeien, was noch in ihr war.
* Charlotte Bronté veröffentlichte 1847 unter einem männlichen Pseudonym ihren ersten Roman „Jane Eyre“, der bereits 1848 ins Deutsche übersetzt wurde, und starb 1855 während ihrer ersten Schwangerschaft.
10.2018/9.2002
Green Park 1997
Ein braunes Blatt?
Das kann nicht sein. Im Biologie-Unterricht hatten sie es uns immer und immer wieder eingetrichtert, dass die grünen Blätter die Nahrungsgrundlage allen Lebens sind.
Blätter mussten grün sein.
Erst recht, wenn sie aus „Green Park“ stammen.
Aber zwanzig Jahre alt können grüne Blätter nicht werden. Das ist der Preis.
Ewige Jugend durch ständiges Sterben.
Herbst. Winter. Frühling und Grün. Endlich grün.
Jung und frisch. Ohne Erinnerung. Das ist der Preis.
Darum möchte ich lieber alt und braun sein wie dieses Blatt.
Die Adern treten deutlich hervor. Wie Leder die Haut.
Aber voller Erinnerungen.
An dich. An uns.
Ich betrachte meine Hand und fühle mich reich.
9.2018/5.2017
Sperrgebiet
Anfangs trafen sie sich im Paderdörfchen hoch oben über der Stadt. Einmal pro Woche, immer an einem anderen Tag, immer zu einer anderen Zeit. Saßen in der Nische – rustikal gebeizte Eiche mit Tee und Pflaumenkuchen – und sprachen über dies und das, die heißen Knie unter dem Tisch verborgen.
Ihr Hunger wurde größer. Er kaufte Nuss-Schokolade und Chips und suchte mit dem Wagen nach einsamen Feldwegen. Wenn das Wetter erträglich war, liefen sie Hand in Hand zur Imbsenburg und picknickten, und sie träumte von gemeinsamen Sonntagsspaziergängen durch die Westernstraße.
Erst in Niederntudorf waren sie endlich unbekannt und kannten sich aus, verließen Wagen und Weg und liebten sich im Unterholz mit schmelzenden Schneeflocken auf ihren Schenkeln und Sekt aus der Thermoskanne.
Die einzigen Fotos in der Öffentlichkeit stammen aus dem Freibad in Geseke. Strahlende Gesichter für ihr Fotoalbum.
Als das erste Jahr um war, zog sie zum Studium in eine eigene Wohnung und die Gespräche und Küsse wurden bitter, wenn er sich nachts verabschiedete, um nach Hause zu fahren.
Heute begegnet sie nur noch selten seiner Frau auf dem Wochenmarkt. Dann schlägt ihr Herz bis zum Hals und sie versucht, an ihr vorbeizukommen, unerkannt zu bleiben wie immer.
6.2018/2003
Kohlen glimmen zwischen uns brennen Rosen in meine Haut
5.2018
Am Ikenberg
Kunigunde* blickt aus dem hohen Fenster hinaus in den Garten der Kaiserpfalz.
Endlich kommt der Frühling auch nach Sachsen.
Die weißen Kronen der Obstbäume wie flaumige Küken zu Ostern.
Der Gärtner kommt mit einem Burschen daher, sie machen sich daran, den verdorrten Pfirsichbaum zu fällen, der schon das letzte Jahr keine Frucht mehr trug.
Kunigunde wendet sich ab, das Ziehen in ihrem Leib treibt ihr die Tränen in die Augen.
Jeden Monat versickert ein Traum schwarz und schmerzhaft im Abort.
Ganze Klöster beten im Chor.
Die Matronen bei Hofe starren auf ihre schlanke Taille.
Sie geht zum Fenster zurück und sieht zu, wie das Holz in handliche Scheite zersägt und gehackt wird.
Vor ihrem Auge ersteht ein Thron, auf seinem roten Samtkissen ein kleiner silbrig schimmernder Knabe, die Krone schwer in der Stirn.
Das Leuchten auf dem Antlitz seiner Mutter wie ein Heiligenschein.
Es ist nicht ihr Gesicht.
Morgen wird der Gärtner mit den Pferden kommen, um den Baumstumpf herauszuziehen und die Erde für einen neuen Schößling vorzubereiten.
* Kunigunde wird 1002 in Paderborn zur Königin und 1014 in Rom zur ersten mittelalterlichen Kaiserin gekrönt. Da sie kinderlos bleibt, muss sie trotz ihrer klugen Politik nach dem Tod ihres Mannes Heinrichs II. 1024 die Reichs-Insignien abgeben.
4.2018/5.2006
Requiem*
Warum siehst du mich so an
Traurig und konzentriert
Versteckst deine Wunden unter roter Erde
Die Adlerfedern in deinem Haar
verraten dich als Häuptling
Alle schauen auf dich
Warten auf deine Entscheidung
wollen nicht sehen, wie müde du es bist
Dein Volk wird nicht überleben
Alle wissen es
Blut. Rote Erde. Tod.
Ein Grund, aufzuhören
Aber die Kinder werden Kinder, werden
Kinder gebären und weiterleben
Mit roter Erde unter der Haut und Adlerfedern in ihren Träumen
Mit ihren Augen
werden sie die Welt sehen und
die alten Lieder singen
Schau mich nicht so an
Dein Volk wird nicht überleben
nach der alten Art
Aber sie werden singen, die Erde
gestalten und die
Adlerfedern in ihrem Haar wird niemand sehen
Lass sie gehen in ihren Schuhen
Es müssen keine Mokassins sein
Lass sie gehen
auf der Blut getränkten, roten Erde
in die neue Zeit
Sie ist nur anders
4.2018/5.2016
*entstanden zu Willi Gaida: Ohne Titel
Ausweg
Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zugrunde ginge,
nähme ich den Apfel und teilte ihn in viele Hälften.
Eine davon gäbe ich dir.
Würdest du sie nehmen?
Die Rotwangige.
Vielleicht hättest du Angst vor dem Gift, stärker als der Tod.
Würdest den Ring an deinem Finger drehen
und mir einen Blick zuwerfen, der mich in die Schranken weist.
Zärtlich und besonnen.
Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zugrunde ginge,
nähme ich den Apfel und teilte ihn in viele Hälften.
Eine davon äße ich in Gedanken an dich.
Die Rotwangige, die mit dem Gift, stärker als der Tod.
1.2018/2016