Ohne Worte
2.2021
Schwarzer Samt
Eine Buchhandlung in Prag.
Schmal und hoch mit einer Treppe und Galerie aus schwarzem Stahl.
Der Geruch nach Leder, Papier und Stille.
Kafkas brennende Augen. Die berühmte Photographie beherrscht als Poster die Rückwand des Raumes. Seine Verlobte wurde offensichtlich herausgeschnitten. So gefällt es mir besser.
Sie war nicht die Richtige.
Wir sind die einzigen Kunden.
An der Kasse ein ernster, junger Mann ganz in Schwarz. Rollkragenpullover, Bart und Brillengestell. Seine Augen.
Was denkt er über die Frau, die in den Kafka-Biographien blättert und plötzlich innehält,
ihrem Mann die Hand auf den Arm legt, den Atem anhält.
Beide stehen still, lauschen und schauen.
Sie haben das Stück erkannt. Natürlich. Die ruhigen, dunklen Klänge der Mondschein-Sonate.
Schwarzer Kaffee in einer Tasse auf dem Tresen. Ihre Augen schwarz. Dunkle Fenster in einer Sommernacht.
Sie stehen ganz still und die Musik umströmt sie,
durch sie hindurch.
Gut, dass niemand hereinkommt,
die Bücher sich in Ruhe vollsaugen können.
Ihre Gehirne und Herzen.
Kafka und Beethoven. Zwei Genies, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zweifel und Pathos.
An diesem Ort umschlingen und vereinigen sie sich.
Die Frau legt einen Moment ihre Hand an die Wange des Mannes und lächelt.
Das Klavier schwermütig und sanft. Schwarze Pelze in einer Kutsche.
Zusammen können wir es ertragen.
Kafka und Beethoven. Beide allein im Kampf gegen Krankheit und Schmerz.
Ich stehe hier mit dir in dieser Buchhandlung in Prag. Bin dankbar und frage nichts mehr.
Als das Musikstück endet, bezahlen wir die Bücher und nehmen den Augenblick mit.
12.2020
Verse
wie chinesisches Porzellan
Wer wünscht sich mehr
5.2020
Abends im Stall
Sie striegelt die Kühe.
Legt die Hand auf Doras glatten Rücken und entfernt behutsam alle kotigen Zotteln.
Ab und zu rasselt eine der Ketten, die Tiere fressen ruhig.
Sie legt ihren Kopf an den mächtigen Leib und träumt:
Nachtschwarze Wärme
Rhythmisches Mahlen und Schnauben
Das Heu sticht im Nacken
Doras warmer Atem darüber
Warm, dunkel, umringt von der Herde
Ein kleines Mädchen im Heu
Sie öffnet die Augen und bürstet Glanz auf die magere Flanke.
Dora hält ganz still.
Ihr Schwanz zuckt nach den Fliegen.
Die kleinen Finger kraulen die haarlose Kruppe.
Sie will die Tür aufklappen, Luft hereinlassen in den schmutzigen Stall.
Der Großvater hängt einen Sack vor die Öffnung:
“Altes Vieh und alte Leut müssen's warm haben.”
Sie blickt auf seine knotigen Hände und nickt.
5.2020/11.1999
Lust
und
Leben
gewinnen
immer
4.2020
Unterwegs
schon immer gab es Menschen
die nur an ihrem Schreibtisch reisen konnten
mit Blick in den Atlas
ein Virus regiert
Grenzen werden geschlossen
ich sehe aus dem Fenster
Knospen explodieren
Triebe folgen dem Licht
der Frühling ist da
3.2020
Für Brigitte
Die Handschuhe
Wenn mir die kleine Leinentasche zwischen die Finger gerät, öffne ich sie, nehme die Handschuhe heraus,
drücke sie an mein Gesicht und atme ihren Duft, den Geruch des Schlafzimmers meiner Großmutter.
Er weckt Bilder in mir aus den Tagen meiner Kindheit:
Türkis, Blau und Gelb
Stoffe, so verblichen und harmonisch komponiert
wie es nur die Sonne und der Staub der Jahre
einer wenig begeisterten Hausfrau vermögen
Eine Holzwiege in der Ecke hinter den Büchern
gefüllt mit Puppen und ihren Kleidern
den Erinnerungen des Mädchens
das meine Großmutter war
War auch sie ein kleines Mädchen gewesen
die Frau mit diesem besonderen Duft und der seidenen Wäsche,
die die Zeit matt und weich gemacht hatte, so weich wie ihren Körper
Würde ich auch so eine Frau sein, mit sechzig noch Frau,
mit diesem prüfenden Blick in den Spiegel
Der Spiegel
leuchtend von Flakons auf poliertem Holz
namenlose Gerüche
die sich erst an ihrer Wärme in ihrem Zimmer entfalteten
Dieser Duft, so blass wie ein verhallender Schritt, ein Hauch nur
Nie werde ich ihn vergessen
Immer werde ich ihn vermissen
den Duft des Zimmers meiner Großmutter,
in dem ich Kind und junges Mädchen war.
3.2020/5.1997
Zu Rolf Escher:
Die drei Hummer (Venezianisches Still-Leben)
Still-Leben
Ob sie es wussten?
Eingezwängt in der Kiste. Körper an Körper. Ihre Scheren passten nicht mehr hinein und hingen über den Rand.
Es gab genug Platz. Nur nicht für sie.
Die Zangen zusammengeschnürt blieb ihnen nur zu warten.
Ob sie das Pulsieren der Herzen der anderen spürten?
Wären sie gerne allein gewesen oder empfanden sie die Nähe der anderen als Trost?
Zu dritt in der Kiste zu warten.
Paul sah auf seine Uhr. Um 14 Uhr wollten sie sich zum Essen treffen und es war der 27.Januar. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.
Er wusste nicht, ob er etwas hinunterbekommen würde.
Vielleicht etwas Bruscetta.
Ihr zuliebe.
1.2020/2.2019
Zu Roswitha-Joy Pavel: Ohne Titel
Kandierter Ingwer
Flammen breiten sich aus
züngeln zum Gaumen empor
Zuckerkristalle knistern
süß und scharf
das Ingwerstäbchen schmilzt dahin
reibt den Mund wie Seife aus
reinigendes Feuer
zieht eine Zündschnur hinter sich her
die Speiseröhre hinab
verliert sich
in den Eingeweiden des eleganten Genießers
12.2019/2012
Im Schatten
Er lehnt sich zurück und beobachtet alles aus sicherer Entfernung.
Macht hier und da eine Bemerkung, stellt eine Frage im richtigen Moment. Dinge zu steuern, ohne sie öffentlich zu verantworten, das ist sein Geschäft.
Vor fast fünfhundert Jahren war Kardinal Richelieu ein Meister darin, den König und die Musketiere wie Bauern auf seinem Schachbrett hin und her zu schieben.
Er betrachtet aufmerksam die Gesichter der Kollegen. Besonders derjenigen, die während der Konferenz nichts sagen.
So wie er.
12.2019/7.2018
Der Moment, wenn du sie aus ihrer Schale löst, die so unansehnlich und stachelig ist, dieser Moment ist einzigartig.
Prall und glänzend. Wunderschön im satten Kastanienbraun liegt sie da.
Schmiegt sich in deine Handfläche, lässt dich nicht los, bis du sie in deine Tasche gesteckt und kurz darauf wieder vergessen hast.
11.2019/9.2014
Ein Sofa aus Stein in einem kleinen Park.
Bedeckt von bunten Mosaiken und wunderschön.
Er muss an Monique denken.
Damals bei der Hochzeit hatte er nicht geahnt, wie sehr er sich heute nach einer pummeligen Frau in einem Hausanzug aus Nicki sehnen würde, die einfach die Arme ausbreitete, wenn er nach Hause kam.
Ein Sofa aus Stein in einem kleinen Park.
Oft fotografiert und wunderschön anzusehen.
10.2019/11.2017
Artgerecht
Mittlerweile müssen Käfighühner einige Quadratmeter mehr Platz bekommen. Sie teilen sich jetzt zu viert einen Raum, der anderthalb Farbfernsehern entspricht.
Ist das artgerecht?
Wie groß sind die Wohnungen in Hongkong oder Berlin, die für den Homo sapiens vorgesehen sind?
Kann man die Fenster öffnen oder wird die Luftzufuhr per Computer gesteuert?
Überhaupt braucht der moderne Mensch kaum mehr Platz als ein Käfighuhn, wenn man die Größenverhältnisse an seine durchschnittliche Körpergröße anpasst.
Eine Couch, ein Tisch mit einem I-Pad und einem Handy für den Pizza-Service.
Vielleicht habe es da die Hühner sogar besser, denn sie sind nicht allein in ihrem Käfig.
9.2019/11.2011
Du atmest in meinen Venen
Hauch eines Gottes
Die Wüste räkelt sich
singt ihr Lied
Ich senke die salzigen Lider
und lausche
8.2019/7.1999
Ich mäandere mich durch die Welt
hell dunkel
oben unten
der kürzeste Weg ist meistens der falsche
7.2019
Aus dem Paradies*
Unser Herrgott und Petrus schauten auf die Erde und waren sich nicht einig.
„Wie können Menschen Dein Haus so verkommen lassen? Nachts im Schutz der Dunkelheit die heiligen Steine aus den Klostermauern herausbrechen und stehlen?“, Petrus schüttelte den Kopf.
Gott sah ihn milde an: „Aber mein lieber Petrus, du urteilst immer so voreilig. Siehst du denn nicht, wie froh sie über die gut behauenen festen Steine sind, aus denen sie die Grundmauern ihre Häuser bauen? Wie geborgen sie sich darin fühlen? - Was könnte ich mir mehr wünschen?“
Doch Petrus wollte sich nicht so schnell geschlagen geben: „Und daneben der alte Gottesacker der Mönche mit den unzähligen Gräbern nur noch eine große Brache, umgepflügte Erdschollen. Da sollen wohl jetzt Rüben und Kohlköpfe wachsen? - Eine Schande ist das!“
Jetzt musste unser Herrgott doch etwas länger überlegen: „Ich verstehe, was du meinst, aber ich glaube, mancher von unseren lieben Brüdern würde sich freuen, wenn er wüsste, dass sein Fleisch und seine Körpersäfte erst dem Kleingetier, dann den Feldfrüchten und Obstbäumen und dadurch auch den bedürftigen Menschen zur Nahrung dienen.“
Friederike lächelt und blickt ihren Mann verliebt an. Er hat so eine besondere Art, den Kindern Geschichten über das Leben zu erzählen und über das, worauf es wirklich ankommt.
Egal, wo sie sind, ob im letzten Herbst in der Elbphilharmonie oder jetzt hier an der Klosterruine im Schwarzwald.
* Entstanden zu Antje Telgenbüscher: Kloster Hirsau
Einmal Sommer bitte
aber gut durch
und ein großes Glas Wasser dazu
6.2018
Herzliche Grüße aus Monaco
Stilleben aus gepressten Blüten udn Blättern hat sie gegen Ende ihres Lebens angefertigt.
Das hat ihr die Hof-Etikette zugestanden.
Wenn ich daran denke, schnürt es mir die Kehle zu.
Eine Prinzessin, makellos und kühl, in der ein Feuer zu brodeln schien.
Wohin mit dieser Kraft.
Was hat sie gesehen, wenn sie die Pflanzen ausgesucht und gepflückt hat.
Haben ihre Finger gezittert, wenn sie sie zwischen große Bücher gelegt hat, bis alle Leben aus ihnen verschwunden war.
Grace, Gracia Patricia.
Ich blicke auf die Grußkarte aus Monaco. Drehe sie stumm in meinen Händen.
6.2019/7.2014
Blaue Stunde zu Libori
Schlag elf senkt sich Stille über den Liboriberg, schweigt das Tuten und Klingeln der Flipperautomaten.
Lautlos schwingen sich die Gondeln des Riesenrads hinauf in die Höhe, ziehen einen leuchtenden Kreis am nachtschwarzen Himmel.
Die letzten Passagiere halten den Atem an beim Anblick des funkelnden Bandes, das unter ihnen liegt.
Stück für Stück erlischt auch dieses.
Die Schausteller schließen ihre Buden und die verliebten Pärchen spüren, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen.
6.2019/7.2008
Auf dem Weg zum Garten
Jedes Mal, wenn wir auf dem Weg zum Garten waren, wurden meine nackten Füße in den Sandalen ganz staubig. Ein brauner feiner Staub, warm und irgendwie schmutzig.
Als Erstes kamen wir an dem großen Garten einer Familie mit mindestens vier Kindern vorbei, die dort wohnten. In ihrem Gartenhaus – war so etwas überhaupt erlaubt? Die Jungen waren sehr sportlich, sprangen nur in kurzen Hosen auf dem Rasen herum, der überraschend gepflegt war.
Der Garten meiner Großmutter war ordentlich, ordentlicher als ihre Wohnung. Beete, ein Rasenstück mit Obstbäumen und einem Walnussbaum, ein Gartenhaus.
Der Weg war in diesem Abschnitt der Kolonie schattiger, der Boden festgetreten, ohne die lästigen Sandkuhlen, die Hecken rechts und links hoch. Ich versuchte durch die Gartentore zu linsen.
Besonders der Garten, der hinter unserem lag, machte mich neugierig.
Eine wuchernde Wildnis, das Gartenhäuschen verborgen unter dornigem Gestrüpp. Wege konnte ich nicht erkennen.
Die alte Frau und ihr Hund, die dort lebten, mussten wohl durch Gänge kriechen um hindurch zu gelangen. Der Mann war vor einigen Jahren gestorben und hatte bis dahin auch dort gewohnt in dem Haus, das niemand sehen konnte.
Ich glaube, meine Großmutter mochte diese Frau, die mir unheimlich war und seltsam aussah. So ockergelb wie ihr Garten im Sommer. Mit ledriger Haut, ein verschossenes Tuch um das bleiche Haar gebunden. Sie war kein altes Hutzelweibchen mit Kopftuch und Schürze, sie trug einen schlammfarbenen Parka und ich spürte, dass dies eine Frau war, die so leben wollte – in ihrem Garten.
Das konnte ich verstehen.
Damals habe ich begonnen, von einem Haus im Wald zu träumen, geprägt von den Erinnerungen eines Kindes, das noch zu klein zum Jäten und Hacken war und bei jedem Besuch als Erstes zu der Himbeer- und Brombeerhecke hinter dem Gartenhaus lief, um die süßen Früchte zu pflücken.
6.2018/2008
Wer sagt denn,
dass es immer Paris sein muss...
5.2019
Teneriffa
Ich habe „ja“ gesagt, ich fahre mit. Weil er so erwartungsvoll geschaut hat.
Und es war gut so.
Sein gerades Profil vor der Felswand
Seine Hände kräftig und eckig
An den gefährlichen Stellen
wo der Pfad sich fast in der Schlucht verliert
verstärkt sich sein Griff
Sein Puls ist ruhig und heiß
Oder ist mir nur so heiß
Sein Nacken, seine Schultern
Jede Bewegung wie gemeißelt
Immer nur nach oben blicken
In sein Gesicht, konzentriert und entspannt
Die Route ist nicht leicht
Immer nach oben
Süßer Wermut säumt unseren Weg
Er lächelt, als er meine stummen Seufzer sieht
Schweißtropfen an meinem Hals
Es ist schön hier im Barranco
Kein Schatten unter Drachenbäumen und Agaven
Unser Atem geht flach
Oben angekommen lässt er meine Hand los
setzt sich neben mir auf die Felsen
Das Meer fließt in den Himmel
Immer und immer wieder
Er schaut mich an, streicht langsam eine Strähne zurück, die sich aus meinem Zopf gelöst hat, und sagt:
„Alle Tage werden wie dieser sein.
Ich lächle und glaube ihm jedes Wort.
5.2018/2007
zu Rolf Escher: Fenster zum Baumgarten. 2004, Ätzradierung
Carpe diem
Es war warm hier auf der Fensterbank. Ruhig und still.
Hier konnte ihm nichts passieren.
Die Sonne schien von draußen herein und tauchte seine Flügel in ihr gleißendes Licht.
Hinter dem Wald zog ein Unwetter auf. Dies irae. Wohin würde sich der Zorn der Götter diesmal entladen?
Doch er war hier geschützt, ihm konnte nichts passieren.
Es gab nichts Schöneres als einen Sommerwind, dem er sich hingeben konnte. Wie oft hatte er sich hineingeworfen und emportragen lassen.
Jetzt waren die Ränder seiner Flügel ausgefranst.
Doch er war hier im Warmen, er hatte es gut.
Ob es bald losgehen würde?
Draußen wüsste er längst Bescheid, würde die ersten Tropfen in der Luft spüren, lange bevor sie gefallen waren.
Hier im Trockenen war er in Sicherheit.
Warum war er nur so müde.
Er hatte es gut, hier auf der Fensterbank.
4.2019
Mit freundlicher Genehmigung © Rolf Escher
www.rolf-escher.de
Eine Biene sein
und sich hineinstürzen in das pralle Leben
Ihr Nacken schmerzt.
Ständig fällt ihr die Pikiernadel herunter, aber die Spitze muss fertig werden.
Sie brauchen das Geld.
Marlene betrachtet stolz das feine Gewebe.
Sie wird nie erfahren, dass hundert Jahre später die Menschen den Atem anhalten beim Anblick ihrer Spitze.
Den Ballsaal vor sich sehen
mit Kronleuchtern und geöffneten Türen in einer Sommernacht.
3.2019
Zwischen den Seiten
Die Konferenz zog sich. Hätte er doch bloß die Diktate nicht zuhause auf seinem Schreibtisch liegen gelassen, die hätte er jetzt schön korrigieren können. Wolfgang griff leise in sein Fach hinter sich nach der Tüte mit den Taschenbüchern. Gut, dass Anja ihm heute seine Bücher wieder mitgebracht hatte.
Er blätterte in dem „Vorleser“ herum. Zum Glück gab es noch Bücher, die man öfter lesen konnte. Und Anja hatte wie immer vorne ein Kärtchen beigelegt:
„Lieber Wolfgang,
vielen Dank für die Bücher. Das von Javier Marías hat mir
nicht so gut gefallen, schöne Formulierungen, aber irgendwie fehlt mir da was.
Trotzdem vielen Dank, besonders für den „Vorleser“.
Gruß Anja
P.S. Deine Bücher riechen immer so gut. Welches Rasierwasser benutzt Du?
Das war typisch für sie. Gut, dass Sabine bei der Konferenz nicht dabei war. Das hätte wieder ein Theater gegeben. Eine von Anjas flapsigen Bemerkungen. Jugendlich und unschuldig.
Wolfgang registrierte aus dem Augenwinkel, dass die Kollegen gebannt auf die Beamer-Präsentation starrten, und senkte den Kopf unauffällig in das Buch. Tatsächlich. Sein Aftershave und ein Hauch von “Golden Virginia“.
Verrücktes Mädchen, riecht an den Büchern, die sie liest. An allen?
Ein Schmierzettel fiel aus den Seiten. Handschriftliche Notizen. Ein Gedicht? Von Anja? Kein Titel. 27.5. Das war letzten Sonntag.
Mein gelbes Kleid schwingt im Takt des Walzers
Du trägst mich die Stufen hinunter in den Saal
Er schwankt wie der Wagen eines Zuges
Alles gleitet, rollt vorüber
Ich lege meinen Kopf an deine Schulter
Tabak und Rasierwasser
Genauso riechen deine Bücher
Manchmal stecke ich beim Umblättern meine Nase ganz tief zwischen die Seiten
Die Blicke der Kollegen werden neugierig
Haut zwischen uns
Dein Frackhemd ist offen
Meine Beine und Arme, mein Hals singen „Ja!“ und immer nur „Ja!“
Mein Mund flüstert „Besser nicht“
Wo ist mein Kleid?
Dein Schweiß rinnt durch die dünne Seide an meinem Bauch hinab
Das wird viele Worte kosten
Wir tanzen und sehen uns nicht an
Er schluckt. Mein Gott, gut, dass Sabine nicht hier ist.
Deine Bücher riechen immer so gut. Manchmal stecke ich beim Umblättern meine Nase ganz tief zwischen die Seiten.
Wie konnte sie so einen Zettel in dem Buch vergessen.
Vergessen?
3.2019/2016
Ehe die Spuren verwehn, wäscht das Meer sie rund.
Alles Schmutzige vergeht in der Erinnerung.
Die schönen Kiesel am Wassersaum.
So werde ich auch an dich später gerne zurückdenken.
2.2019/6.2016
Ihre Gedanken flattern an der Scheibe
Wollen hinein
1.2019
So ein Winterschlaf zu zweit
Zugedeckt von flaumigem Schnee
Ein mit Diamanten und Perlen
besticktes Brautbett
1.2019/2000
Ohne Durchblick schaue ich ins neue Jahr und es ist gut so.
1.2019
Weihnachtszeit. Märchenzeit.
Aschenbrödel macht sich fertig zum Ball.
Und was ist mit dir?
12.2018
Zwiegespräch am Reformationstag
Ich betrachte dein Bild. Es zeigt einen Mann in den besten Jahren. Wohlgenährt und selbstzufrieden.
Ich kann nicht glauben, dass du das bist.
Der Mann, der die Welt auf den Kopf gestellt hat. Der seinem Gewissen treu blieb, obwohl es um seine geistliche Existenz und sein Leben ging.
Mit den groben Händen eines Bauern hast du die Heilige Schrift für jedermann übersetzt. Du hast behutsam die Worte Jesu „Gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen!“ und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ herausgelöst und hast sie dem Papst entgegengehalten, der sich so weit von der guten Nachricht des Neuen Testaments entfernt hatte.
Hast nicht zugelassen, dass sie Gott zu einem Händler machen, den es mit Gold und guten Werken zu bestechen gilt, wenn man dem Fegefeuer entgehen will.
Du hast von der Gnade und Vergebung Gottes gepredigt und zu Gewissensfreiheit und Nächstenliebe aufgerufen – wie konntest du im selben Atemzug Hilfsbedürftige und Minderheiten wie Juden und behinderte Menschen verteufeln?
Hast du aus dieser Intoleranz, diesem Starrsinn die Kraft genommen, dich für die Bibel als einzige Glaubensgrundlage in die Bresche zu werfen? Dafür deinen Tod zu riskieren?
Sieht so der Mann aus, der als ehemaliger Jurastudent voller Ironie gesagt haben soll:„Guter Jurist – böser Christ!“? Der Mann, der den Christen neue Hoffnung geschenkt hat, das Vertrauen darauf, dass der richtende Gott des Alten Testaments ausgedient hat. Dass er Platz gemacht hat für einen Vater, der seinen verlorenen Sohn froh in seine Arme schließt, als der aufrichtig bereut.
Nachdenklich betrachte ich dein Gesicht und blicke zurück.
Bin dankbar, dass es dich gab.
Damals vor 500 Jahren.
10.2018/11.2016
Himmel und Erde
zwischen Tag und Nacht
zwischen Ebbe und Flut
weist uns der Mond den Weg
Augenblicke werden zu Perlen
du siehst mich an
quer durch den Raum
die Stimmen der anderen verschwinden
wir beide
zwischen Himmel und Erde
zwischen Ebbe und Flut
10.2018/9.2016
Donnerstage
Morgens liegt sie in seinem Arm, die Beine ineinander geschlungen, und wartet auf die Sieben-Uhr-Glocken.
Sie lauscht, nachdem der Wecker um halb sieben ausgepiept hat, mit einem Ohr auf die leisen Töne der Abdinghofglocken, die kurz darauf vom vollen Bass des Doms abgelöst werden.
Dann hält sie den Atem an und genießt das rhythmische Schwingen, das ihr von weit her `Guten Morgen!` zuruft.
Abends stellt sie sich in der Chorprobe möglichst nah ans Klavier. Sie liebt es, sich anzulehnen oder ihre Hand auf das warme Holz zu legen, und fühlt die Vibrationen noch lange auf dem Nachhauseweg durch die spätabendliche Stadt.
Ihr Körper eine Glocke.
Viel später gehen sie ins Bett und sie lässt sich von seinem Herzschlag in den Schlaf singen.
10.2018/9.2017
schwarz weiß
hell und dunkel
Licht und Schatten
du und ich
treffen uns
in der Stunde der Dämmerung
wenn die Schatten länger werden
sich begegnen
und langsam in der Nacht verschwinden
9.2018/7.2010
Kindersommer
gesegneter Sand
jeden Morgen wieder neu
glattgespült
und voller Erwartung
offen für Muschelbilder
für Burgen mit Höhlen und Gräben
kleine Füße patschen im Wasser
die Wellen kommen und gehen
8.2018/6.2009
Bartholomäus-Kapelle
Licht und Schatten schaffen einen Raum,
in dem sich Töne fangen, gesungen von griechischen Gastarbeitern beim Bau unseres Doms.
Ihre Sehnsucht nach dem Ziegengeläut und den Pflanzen ihrer Heimat meißelten sie in Stein -
per graecos operarios construxit.
7.2018/2010
Rosenhochzeit
Ich sitze im Schaukelstuhl, höre Debussy und beobachte die beiden:
Zwei Köpfe im Schein der Esstischlampe, tief über eine Rose gebeugt. Die Stirnen berühren sich fast.
„Also, die Blüten bei den Rosengewächsen haben fünf Kelchblätter und fünf Kronblätter und ganz viele Staubblätter. Und bei den Lippenblütlern ist das so, wenn eine Biene ihren Rüssel in den Blütenkelch taucht, drückt sie damit die Staubbeutel nach unten, so dass ihr Rücken voller Blütenstaub ist, und bei der nächsten Blüte verliert sie ihn dann wieder und bestäubt sie.“
Vater und Tochter sehen sich verständnissinnig an.
„Ist so eine Blüte nicht ein Wunder?“
Sie nickt und drückt ihre Nase in die roten Rosenblätter.
„Musst du noch mehr lernen?“
„Nein, das andere kann ich alles. Schmetterlingsblütler, Korbblütler, Lippenblütler, Kreuzblütler, dazu gehören auch die Kohlgewächse, Rosenkohl, Wirsing und so, und dann die Hahnenfußgewächse und die Obstbäume, die gehören ja auch zu den Rosengewächsen, Kirschen, Äpfel, und die anderen.“
Sie tauchen nacheinander ihre Nasen in die Blüten der zehn langstieligen Rosen, die er mir zum Hochzeitstag geschenkt hat.
Daneben steht eine kleine Vase mit einer abgeknipsten Kletterrose vom Balkon, tiefrot und voll mit purpurnen Rändern und einer Knospe.
Sie atmet tief ein und sagt voller Ernst:
„Unsere riechen am besten.“
Zwei Köpfe im Schein der Lampe.
Ich sitze im Schaukelstuhl und höre Musik.
6.2018/2002
Auf dem Weg
Woher kommst du?
Aus dem Walde.
Wohin gehst du?
Zu den Ufern des großen Flusses.
Wer bist du?
Ich bin die Sehnsucht,
die aus Tieren Menschen macht.
5.2018/2.1998
Ohne Schirm
Ich stehe am Waldrand, auf mein Fahrrad gestützt.
Der Asphalt ist warm unter meinen nackten Füßen.
Regentropfen rinnen über meine Schultern,
flüstern Sommergedichte.
Die milchgrünen Hügel drehen mir den Rücken zu,
träumen von Kornblumen und rotem Mohn.
4.2018/6.2000
Ein Fenster zum Hof
Tellergeklapper und Stimmen aus der Restaurantküche. Leise singt jemand zum Gedudel des Radios.
Sie liegt auf dem Bett und lässt ihre Blicke an der hohen Altbaudecke bis zum offenen Fenster wandern.
Er steht auf, um es zu schließen, doch sie streckt sich und lächelt ihn an: „Bitte, lass es auf – es ist doch schön so.“
Die helle, weiche Luft, die kühl aus dem Hof emporsteigt nach der anstrengenden Fahrt mit den Rädern und dem Gepäck.
Stundenlang waren sie in der prallen Sonne unterwegs gewesen und im ersten Moment war sie enttäuscht, als sie feststellen musste, dass das Hotel mitten im Stadtzentrum lag.
Aber sie hatten dieses Fenster zum Hof.
Sie schwor sich, nur noch in diesem Zimmer zu schlafen, wenn sie wieder in diese Stadt kommen würden. Später.
Dann würde sie sich an das italienische Drei-Gänge-Menue erinnern, das sie sich nach zwei Tagen Jugendherberge gegönnt hatten.
Sie würde sich an ihre entspannten, matten Glieder nach der Fahrt am Kanal erinnern. An die paradiesische Ruhe.
Einfach vor sich hin radeln, dem Kanal folgen und ab und zu auf die Karte sehen.
Durch den Lichtschacht fällt das Licht wie ein weicher Schleier auf seinen Rücken, hüllt sie ein und alles ist gut.
3.2018/8.2016